Der grundsätzlich endlos mögliche Widerruf von Verbraucherdarlehen nach § 355 Abs. 2 BGB, bei denen die kreditgebenden Banken falsche Widerrufsbelehrungen verwendet haben, ist derzeit Zwecks Einsparung der Vorfälligkeitsentschädigungen zum Massenphänomen geworden. Die möglichen Zinsvorteile für die Darlehensnehmer sind enorm, ebenso wie die Schäden der Banken. Meist geht es um Verbraucherkredite, mit denen der Immobilienerwerb langfristig finanziert wurde. Aber auch Lebensversicherungsverträge – vor allem solche bis zum 31.12.2007 – haben aufgrund der BGH-Rechtsprechung im Widerrufs-Joker einen Feind gefunden.
Ausgangspunkt ist das Urteil des BGH vom 10. 3. 2009 – XI ZR 33/08. Hier hatte der BGH eine unklare Widerrufsbelehrung, die den Fristbeginn missverständlich erläuterte, grundsätzlich zum endlosen Widerrufsrecht Stellung genommen.
Einwand der Banken: Verwirkung
Widerruft man nun auf Basis dieser Rechtsprechung bei zweifelsfrei fehlerhafter Widerrufsbelehrung ein Verbraucherdarlehen, treten die Banken oder Versicherungen der Ausübung des Widerrufsrechts in den meisten Fällen mit dem Einwand der „Verwirkung“ entgegen.
Was ist Verwirkung?
Der Einwand der Verwirkung richtet sich gegen eine formell rechtmäßige Rechtsausübung, die aber auf Grundlage der Umstände des Einzelfalles gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstößt. Diese Umstände, die die Ausübung eines Rechts treuwidrig erscheinen lassen, werden von der Rechtsprechung eingeteilt in ein Zeitmoment und ein Umstandsmoment:
(1) Beim Zeitmoment geht es darum, dass sich ein Vertragspartner nach Ablauf einer langen Zeit berechtigter Weise auf den Bestand eines Vertrages verlassen können soll und nicht mehr mit der Ausübung eines Widerrufsrechts rechnen muß. Wie lange dieser Zeitraum ist, ist Ermessensentscheidung des Gerichts.
(2) Das Umstandsmoment beschreibt beispielsweise Sachverhalte, bei denen der Vertragspartner (hier also die Bank oder Versicherung) darauf vertrauen konnte, dass das Widerrufsrecht nicht mehr ausgeübt wird. Dieses Vertrauen muss schutzwürdig sein. Der Vertrauenstatbestand muß durch den Verbraucher geschaffen worden sein.
Beide Elemente müssen zusammen vorliegen und unterliegen der richterlichen Wertung, die man nicht immer sicher vorhersehen kann. Allerdings ist zu beachten, dass aufgrund der oben dargelegten zwei Kriterien notwendig eine Einzelfallbetrachtung anzustellen ist, sodass die wenigsten Entscheidungen verallgemeinerungsfähig sind. Der immer vorgebrachte Einwand der Verwirkung greift somit nicht, sondern es geht um die Umstände des Einzelfalles.
Widerruf von Lebensversicherungsverträgen
Der BGH hat hierzu mit Urteil vom 07.05.2014, Az.: IV ZR 76/11 in Bezug auf den Widerruf von Lebensversicherungsverträgen (Thematik § 5a VVG alte Fassung) wie folgt entschieden und ist dieser beliebten Argumentation der Versicherungen entgegengetreten:
„cc) Der Kläger verstößt mit seiner Rechtsausübung nicht gegen Treu und Glauben.
(1) Entgegen der Ansicht der Beklagten hat er sein Recht zum Widerspruch nicht verwirkt. Ein Recht ist verwirkt, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (Umstandsmoment). Letzteres ist der Fall, wenn der Verpflichtete bei objektiver Betrachtung aus dem Verhalten des Berechtigten entnehmen durfte, dass dieser sein Recht nicht mehr geltend machen werde. Ferner muss sich der Verpflichtete im Vertrauen auf das Verhalten des Berechtigten in seinen Maßnahmen so eingerichtet haben, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde (st. Rspr., BGH, Urteil vom 23. Januar 2014 – VII ZR 177/13, NJW 2014, 1230 Rn. 13 m.w.N.). Es fehlt hier jedenfalls am Umstandsmoment. Ein schutzwürdiges Vertrauen kann die Beklagte schon deshalb nicht in Anspruch nehmen, weil sie die Situation selbst herbeigeführt hat, indem sie dem Kläger keine ordnungsgemäße Widerspruchsbelehrung erteilte (vgl. dazu unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit EuGH, VersR 2014, 225 Rn. 30).
(2) Aus demselben Grund liegt in der Geltendmachung des bereicherungsrechtlichen Anspruchs keine widersprüchliche und damit unzulässige Rechtsausübung (vgl. dazu Brand, VersR 2014, 269, 276). Widersprüchliches Verhalten ist nach der Rechtsordnung grundsätzlich zulässig und nur dann rechtsmissbräuchlich, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen. Eine Rechtsausübung kann unzulässig sein, wenn sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig erscheinen (BGH, Urteil vom 15. November 2012 – IX ZR 103/11, NJW-RR 2013, 757 Rn. 12 m.w.N.). Die Beklagte kann keine vorrangige Schutzwürdigkeit für sich beanspruchen, nachdem sie es versäumt hat, den Kläger über sein Widerspruchsrecht zu belehren.“
Damit wird auch der Argumentation der Banken der Boden entzogen. Denn schließlich haben die Banken, wie der BGH treffend formuliert, die beanstandete Situation „selbst herbeigeführt“ – durch die Verwendung fehlerhafter Widerrufsbelehrungen.
Widerruf von Darlehensverträgen
Leider ist die für den 23. Juni 2015 angesetzte weitere BGH-Entscheidung zum Az: (XI ZR 154/14) zur Verwirkung des Widerrufs von Immobilien-Darlehensverträgen ausgefallen. Die Kläger haben ihre Revision zurückgezogen. Über die Gründe kann nur spekuliert werden.
Im Streit stand wieder die Frage, ob der Darlehensnehmer sein Widerrufrecht verwirkt hat. Zuvor war das LG Hamburg und Hanseatische OLG Hamburg genau davon ausgegangen (Urteil vom 26. Februar 2014 – 13 U 71/13).
Nach der Rechtsansicht des OLG war die Widerrufsbelehrung fehlerhaft und damit nicht geeignet die Widerrufsfrist in Gang zu setzen. Weil jedoch die Belehrung nicht dazu geeignet gewesen sei, den Verbraucher von einem Widerruf abzuhalten, und überdies vom Darlehensabschluss bis zum Zeitpunkt des Widerrufs mehr als vier Jahre verstrichen seien, lägen nach Ansicht des Hamburger OLG die Voraussetzungen für eine Verwirkung vor.
Die in den Instanzen umstrittene Frage bleibt wegen Rücknahme der Revision bis auf weiteres in der Schwebe. Über die Gründe des Rückziehers gibt es keine Informationen, da die Parteien Stillschweigen vereinbart haben. Da der Kunde Revisionsführer war und in den Vorinstanzen verloren hatte, steht zu vermuten, dass sein Rückzieher nicht kostenlos für die in den Instanzen siegreiche Sparkasse erfolgt sein wird. Aus der Rücknahme der Revision kann daher nur vermutet werden, dass der BGH im Verbraucherinteresse entschieden hätte.
Bereits vollständig vollzogener Vertrag
Ein Aspekt ist, dass die meisten Darlehensverträge noch nicht vollzogen sind, also sich nach wie vor in der Rückzahlungsphase befinden. In der Rechtsprechung wird daher auch argumentiert, dass der Widerruf noch im Vollzug befindlicher Verträge jedenfalls nicht mit dem Einwand der Verwirkung abgetan werden kann.
Umgekehrt allerdings finden sich Urteile, die im Falle des vollständigen Vollzugs des Vertrages, also der Rückzahlung der Darlehen nebst Zinsen, einen nachträglichen Widerruf für unzulässig erklären. Wie lange nach vollständigem Vollzug noch eine Rückzahlung der geleisteten Vorfälligkeitsentschädigung verlangt werden kann, bleibt weiter spannend.
Wenn Sie einen Darlehensvertrag oder Versicherungsvertrag abgeschlossen haben und den Widerrufs-Joker ziehen möchten, wenden Sie sich an die Rechtsanwaltskanzlei Göttlich Fondsanwalt.de unter der bundesweiten Servicenummer: 0800-110304089 oder sekretariat@goettlich.de