Es ist im vollen Einklang mit EU-Recht möglich, die oftmals langwierige GmbH-Liquidation in Deutschland zu vermeiden. Indem der Gesellschafter einer GmbH die Verschmelzung mit einer englischen Limited (GmbH) beschließt („Cross-Border-Merger“/grenzübergreifende Verschmelzung), wird die GmbH aus dem Handelsregister gelöscht und geht vollständig in der UK-Limited auf. Spätestens ab dann gilt nur noch das liberale, unternehmerfreundliche englische Gesellschaftsrecht für die Gesellschaft.
Hierzu gibt es die EU-Direktive 2005/56/EC („Cross Border Mergers“). Diese EU-weite Regulierung zur Verschmelzung von EU-Unternehmen erlaubt es einer Kapitalgesellschaft, ihren Sitz in ein anderes EU-Land zu verlegen, in dem ein für den Unternehmer vorteilhafteres Rechtssystem gilt.
Die Eröffnung eines Insolvenzverfahren kann dann nicht mehr nach Deutschem Recht behandelt werden. Für die im Handelsregister gelöschte und nach England ausgewanderte Gesellschaft findet nicht das in Deutschland geltende GmbH-Recht und daher auch nicht der § 64 GmbHG Anwendung.
Ein solches Verfahren verstößt auch gegen die Niederlassungsfreiheit − Art. 43 EG und 48 EG. Ferner liegt die rechtliche Brisanz der Sitzverlegung nicht in einem Wechsel des Gesellschaftsstatuts, sondern in einem Insolvenzstatutenwechsel. Nach Art. 3 und 4 EuInsVO ist der insolvenzrechtliche Anknüpfungspunkt nicht der Ausgangsstaat, sondern nach dem EuGH-Judikat „Staubitz-Schreiber“ ist allein auf den Moment der Insolvenzantragstellung abzustellen und daher den Zielstaat der Gesellschaft.
-EuGH, Urt. v. 17.1.2006, Rs. C-1/04, Slg. 2006, I-701 – Staubitz-Schreiber, Rz. 29.-
Die hierzu ergangene Rechtsprechung ist eindeutig:
Das Thema Sitzverlegung in der EU ist seit Jahren Gegenstand der Rechtsprechung. Es hat der EuGH in Fortführung der Entscheidungen „Cartesio“ (EuGH, Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-210/06 – Cartesio, NJW 2009, 569) und „Eurofood“ (EuGH, Urt. v. 2.5.2006, Rs. C-341/04 – Eurofood, Slg. 2006, I-3813) mit den zwei weiteren Leitentscheidungen „Interedil“( EuGH, Urt. v. 20.10.2011, Rs. C-396/09 – Interedil, ZIP 2011, 2153) und „National Grid Indus“ (EuGH, Urt. v. 29.11.2011, Rs. C-371/10 – National Grid Indus BV) die wesentlichen Leitgedanken zusammengefasst.
Mobilität realisiert sich bei natürlichen Personen typischerweise durch eine Verlegung des Wohnsitzes. Ähnlich ist es bei Gesellschaften. Hierzu auch: -Zum Begriff der „Gesellschaft“ im IPR Wedemann, RabelsZ 75 (2011), 541 ff.- Deren Mobilität äußert sich durch Sitzverlegungen. -Arbeitskreis Europ. Unternehmensrecht, Thesen zum Erlass einer Sitzverlegungs-richtlinie, NZG 2011, 98 ff.; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2011, Rn. 51 ff.-
Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Verwaltungssitzverlegung und der Satzungssitzverlegung. Ich nehem Bezug auf: -Lutter/Bayer/J. Schmidt, EuropUR, 5. Aufl. 2012, § 6 Rn. 45 ff.; Weller, Zum identitätswahrenden Wegzug deutscher Gesellschaften, DStR 2004, 1218 ff.-
In der Praxis fallen Satzungs- und Verwaltungssitz zwar meistens zusammen; seit den EuGH-Entscheidungen „Centros“ (EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97 – Centros, IPRax 1999, 360), „Überseering“ (EuGH, Urt. v. 5.11.2002, Rs. C-208/00 – Überseering, IPRax 2003, 65;) und „Inspire Art“ (EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01, Slg. 2003, I-10155) gibt es jedoch zunehmend Unternehmen, deren statutarischer und deren tatsächlicher Sitz in verschiedenen Staaten lokalisiert sind. Ein prominentes Beispiel ist die Fluggesellschaft Air Berlin, eine Public Limited Company (PLC) englischen Rechts, deren registered office in England liegt, die jedoch ihre Tätigkeit von ihrem Verwaltungssitz in Berlin aus führt. Ein anderes Beispiel ist die Münchener Traditionskanzlei Noerr Stiefenhofer Lutz, die neuerdings in der Rechtsform einer englischen Limited Liability Partnership (LLP) organisiert ist, obwohl sie schwerpunktmäßig in Deutschland tätig ist. Die Beispiele nehmen täglich zu, seit Kurzem firmieren die in Deutschland operierenden Vertriebsgesellschaften der Modeketten H&M und Zara in der Rechtsform einer niederländischen GmbH. Siehe dazu: -Sick, Unternehmensmitbestimmung für ausländische Gesellschaften – Inkonsistenzen beheben!, GmbHR 2011, 1196, 1197.-
Anknüpfend an einen Aufsatztitel von Wulf-Henning Roth kann man konstatieren: „Das Wandern ist des Müllers Lust …“: Zur Auswanderungsfreiheit für Gesellschaften in Europa“. Hierzu auch: -W.-H. Roth, ‚Das Wandern ist des Müllers Lust …‘: Zur Auswanderungsfreiheit für Gesellschaften in Europa, FS Heldrich (2005), S. 973 ff.-
Sollte nach Sitzverlegung ein Strafverfahren wegen Insolvenzverschleppung eingeleitet werden, so ignoriert dies wesentlichen Grundprinzipien des EU-Rechts.
Zwei Eckpfeiler der Europäischen Union fördern die Unternehmensmobilität: Erstens der „Binnenmarkt“ (Art. 2 Abs. 3 EUV) und zweitens der „Raum des Rechts“ (Art. 3 Abs. 2 AEUV). Der Binnenmarkt ist das „wirtschaftliche Herzstück der Integration“. Hierzu auch: -Streinz/Pechstein, EUV, 2. Aufl. 2012, Art. 3 Rn. 7.- Er lässt schon per definitionem das Territorialitätsprinzip hinter sich, handelt es sich doch um einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist (Art. 26 Abs. 2 AEUV) / (Nach Art. 54 AEUV profitieren auch Gesellschaften als Berechtigte der Niederlassungsfreiheit vom Binnenmarkt).
Seit dem Vertrag von Lissabon nimmt auch der „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 3 Abs. 2 EUV) eine prominente Stellung ein; er erlaubt in weitem Umfang eine Harmonisierung des IPR. Dem Raum des Rechts liegt das wechselseitige Vertrauen in die jeweils anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zugrunde, d.h. auch das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Ausgestaltung fremder Rechtsinstitute / Vgl. z.B. die Erwägungsgründe 16 und 17 der EuGVO.
Dieses Vertrauen äußert sich im Verfahrensrecht in der europaweiten Anerkennung ausländischer Gerichtsentscheidungen und Insolvenzverfahren (Vgl. Art. 33 EuGVO und Art. 16 EuInsVO), und im Sachrecht in der zunehmenden Akzeptanz fremder Rechtsinstitute im Inland. Diese Akzeptanz wird rechtstechnisch entweder über die Methode der Anerkennung von Statusfragen und Rechtslagen erreicht, wie das EuGH-Urteil „Grunkin Paul“ im Namensrecht erhellt (EuGH, Urt. v. 14.10.2008, Rs. C-353/06 – Grunkin Paul, Slg. 2008, I-7639.), oder kollisionsrechtlich auf Basis der Zwei-Stufen-Theorie über allseitige Verweisungsnormen auf erster und über die Datumtheorie oder das Institut der Substitution auf zweiter Stufe.
Ich nehme Bezug auf. 1. Anerkennungstheorie:
Coester-Waltjen, Anerkennung im Internationalen Personen-, Familien- und Erbrecht, IPRax 2006, 392; Lagarde, Développements futurs du droit international privé dans une Europe en voie d’unification, RabelsZ 68 (2004), 225; Mansel, Anerkennung als Grundprinzip des Europäischen Rechtsraums, RabelsZ 70 (2006), 651 ff.; Sonnenberger, Anerkennung statt Verweisung?, FS Spellenberg (2010), S. 371 ff.
2. Zwei Stufen Theorie
Hierzu Jayme, Rechtsvergleichung – Ideengeschichte und Grundlagen von Emerico Amari zur Postmoderne, 2000, S. 137, 143 f.; ders., FS Müller-Freienfels, 1986, S. 367 ff.; E. Lorenz, FS Werner Lorenz, 1991, S. 441, 464 ff.
39 Zur IPR-Maxime der Allseitigkeit W.H. Roth, Europäische Kollisionsrechtsvereinheit-lichung, EWS 2011, 314, 320 f.; Weller, Anknüpfungsprinzipien im Europäischen Kollisionsrecht: Abschied von der klassischen IPR-Dogmatik?, IPRax 2011, 429, 430 ff.
40 Hierzu Jayme, Ausländische Rechtsregeln und Tatbestand inländischer Sachnormen – Betrachtungen zu Ehrenzweigs Datum-Theorie, GS Ehrenzweig (1976), S. 35 ff.
41 Vgl. zu weiteren Methoden, die der Internationalität des Sachverhalts Rechnung tragen, v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, Band 1, 2. Aufl. 2003, § 4 Rn. 17 – 27.
Mit dem Binnenmarkt und dem Raum des Rechts werden Territorialität und comitas überwunden; die Akzeptanz fremden Rechts ist heute weit mehr als ein „freundliches Entgegenkommen“ unter Staaten, es ist eine Pflicht. Vorgespurt wurde dieser Wandel vom EuGH in den Entscheidungen „Dassonville“ (EuGH, Urt. v.11.7.1974, Rs. 8-74 – Dassonville, Slg. 1974, 837) und „Cassis de Dijon“ (EuGH, Urt. v. 20.2.1979, Rs. 120-78 – Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649.) über das aus der Warenverkehrsfreiheit abgeleitete Herkunftslandprinzip, welches 1995 in der „Gebhard-Entscheidung“ (EuGH, Urt. v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94 – Gebhard, Slg. 1995, I-4165.) zu einer allgemeinen Grundfreiheitendogmatik ausgebaut wurde.
Die EU-Mitgliedstaaten haben ihre ursprüngliche Autonomie, „die Anwendung ausländischen Rechts im Inland streng zu verbieten“ (Savigny), im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten weitgehend eingebüßt. Ich beziehe mich auf: -Vgl. auch W.H. Roth, Europäische Kollisionsrechtsvereinheitlichung, EWS 2011, 314, 323 ff.-
An ihre Stelle ist eine Akzeptanzvorgabe durch das Unionsrecht getreten. Diese Heteronomie bedingt, dass Rechtsprodukte aus anderen EU-Mitgliedstaaten – bei entsprechendem kollisionsrechtlichem Anwendungsbefehl (z.B. auf Grundlage der Rom-Verordnungen oder aber der Niederlassungsfreiheit als versteckter Kollisionsnorm) – prinzipiell im Inland anzuerkennen sind. Ich beziehe mich auf: – Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004, S. 53 ff., 93 ff.; Thomale, Die Gründungstheorie als versteckte Kollisionsnorm, NZG 2011, 1290 ff.
Ausnahmen sind lediglich aus „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ unter den Schranken-Schranken der Diskriminierungsfreiheit, Geeignetheit und Erforderlichkeit erlaubt. Ich beziehe mich auf: – Auch die kollisionsrechtlichen Institute des ordre public und der Sonderanknüpfung unterliegen dieser europarechtlichen Schranke, EuGH, Urt. v. 23.11.1999, Rs. C-369/96 u. C-376/96 – Arblade, Slg. 1999, I-8453.-
Für eigene Rechtsprodukte verbleibt den Mitgliedstaaten (in den nicht materiell-rechtlich harmonisierten Bereichen) dagegen noch eine Regelungsautonomie. Diese Abgrenzung äußert sich in Bezug auf die Unternehmensmobilität in der Differenzierung zwischen Zuzugs- und Wegzugskonstellationen.
Unabhängig von den seitens staatlicher Institutionen nicht zu prüfenden Motiven kann eine grenzüberschreitende Sitzverlegung kann mehrere wohlfahrtssteigernde Vorteile haben: Mit ihr lässt sich nicht nur ein Unternehmensstandort angesichts sich wandelnder ökonomischer und gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen relokalisieren. Sie ermöglicht zudem auch (mittelbar) die Wahl eines attraktiveren anwendbaren Sachrechts, weswegen auch von zulässigem „seat and law shopping“ die Rede ist. Ich beziehe mich auf: -Kleiner, Le transfert du siège social en droit international privé, Revue trimestrielle JurisClasseur 2010, 315, 339 ff.-
Denn Satzungs- und Verwaltungssitz sind faktensensitive und damit wandelbare Anknüpfungspunkte. Der Satzungssitz ist auf kollisions- und auf sachrechtlicher Ebene für das Gesellschaftsstatut von Bedeutung, der Verwaltungssitz für das Insolvenzstatut. Der Verwaltungssitz ist ferner Anknüpfungspunkt für das objektive Vertragsstatut gemäß Art. 4 i.V.m. 19 Abs. 1 Rom I-VO. Befinden sich Satzungs-. Und Verwaltungssitz beispielsweise in England, so ist eine Anwendung des Deutschen GmbH Rechts nicht mehr möglich. Eine Niederlassung in Deutschland existiert nicht.
Es hat der EuGH in Fortführung der Entscheidung „Eurofood“ (EuGH, Urt. v. 2.5.2006, Rs. C-341/04 – Eurofood, Slg. 2006, I-3813.) in der ergangenen Entscheidung „Interedil“ zum Ausdruck gebracht, dass sich der center of main interest mit dem „Ort der Hauptverwaltung“ deckt. Ich nehme Bezug auf: EuGH, Urt. v. 20.10.2011, Rs. C-396/09 – Interedil, ZIP 2011, 2153 ff., Leitsatz 3: „Bei der Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft ist dem Ort der Hauptverwaltung dieser Gesellschaft, wie er anhand von objektiven und durch Dritte feststellbaren Faktoren ermittelt werden kann, der Vorzug zu geben. (…).“
Nachrangig ist dagegen der (statischere) Ort der business activity, d.h. die Belegenheit der Betriebs- oder Vertriebsstätten. Die mit dem Gleichlauf von COMI und Verwaltungssitz einhergehende Flexibilität nutzen viele in der Krise befindliche Gesellschaften zum forum shopping. Die Insolvenzrechtsarbitrage wird zudem noch dadurch erleichtert, dass es in zeitlicher Hinsicht nicht auf eine gewisse Mindestbelegenheitsdauer in einem Staat ankommt (sog. période suspecte), sondern nach dem EuGH-Judikat Staubitz-Schreiber allein auf den Moment der Insolvenzantragstellung. So auch: -Weller, Die Verlegung des Center of Main Interest von Deutschland nach England, ZGR 2008, 835, 860 ff.; EuGH, Urt. v. 17.1.2006, Rs. C-1/04, Slg. 2006, I-701 – Staubitz-Schreiber, Rz. 29.
In der Entscheidung „Interedil“ stellt der EuGH nun klar, dass damit auch kurz vor Insolvenzantragstellung erfolgte Sitzverlegungen zulässig sind. Ich nehme Bezug auf: -EuGH, Urt. v. 20.10.2011, Rs. C-396/09 – Interedil, ZIP 2011, 2153 ff., Rz. 54: Es sei „auf den letzten Ort abzustellen (…), an dem sich dieser Mittelpunkt befindet.“ Rz. 55: „(…) für die Bestimmung des zuständigen Gerichts [kommt] es grundsätzlich darauf an (…), wo sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens befunden hat.“ Rz. 56: „Wird (…) der satzungsmäßige Sitz verlegt, bevor ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt wird, wird daher nach Art. 3 Abs. 1 S. 2 EuInsVO vermutet, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen am neuen satzungsmäßigen Sitz befindet (…).“ (Hervorhebung durch Verf.).-
Damit wäre ein Verfahren in Deutschland mangels Zuständigkeit und wegen fehlender Anwendbarkeit Deutschen Rechts einzustellen. Der Sitz der Gesellschaft befindet sich spätestens seit Löschung der ursprünglichen GmbH, sowie dann auf die Limited verschmolzenen Gesellschaft in England und es gilt alleine das dortige Insolvenzrecht, wenn nach englischem Recht Insolvenzreife gegeben wäre.
In England gilt kein § 64 GmbHG, der eine Insolvenzverschleppung gar zur Straftat erklärt. Wichtig ist jedoch, dass eine Sitzverlegung zu Spät kommen würde, wenn der Straftatbestand bereits vor der Sitzverlegung vollendet worden ist.
Für Beratungen zu einer EU-Sitzverlegung stehe ich gerne zur Verfügung unter:
Stefan Göttlich
-Rechtsanwalt-
Sie erreichen mich unter:
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